Rezensionsessay: Auf der Suche nach dem verlorenen Raum? Das östliche Europa im „Handbuch“

Borodziej, Włodzimierz; Holubec, Stanislav; von Puttkamer, Joachim (Hrsg.): The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century. Volume 1: Challenges of Modernity. Abingdon, New York 2020 : Routledge, ISBN 9781138301641 XIV, 446 S. £ 175.00

Borodziej, Włodzimierz; Ferhadbegović, Sabina; von Puttkamer, Joachim (Hrsg.): The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century. Volume 2: Statehood. Abingdon, New York 2020 : Routledge, ISBN 9781138301665 XVII, 330 S. £ 190.00

Borodziej, Włodzimierz; Laczó, Ferenc; von Puttkamer, Joachim (Hrsg.): The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century. Volume 3: Intellectual Horizons. Abingdon, New York 2020 : Routledge, ISBN 9781138301658 XVIII, 375 S. £ 160.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Krzoska, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg

Die Art und Weise, wie Geschichtswissenschaft im ersten Drittel des 21. Jahrhunderts betrieben wird, unterscheidet sich in manchen Bereichen deutlich davon, wie dies in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch der Fall war. Man mag die allgemeine Amerikanisierung der Landschaft beklagen, die ihren sichtbarsten Ausdruck in der zunehmenden Dominanz der englischen Sprache, der veränderten Art und Weise, wie wissenschaftliche Texte stilistisch verfasst werden, und der allgemeinen Gutachterdiktatur gefunden hat. Gleichzeitig ist aber deutlich zu erkennen, dass in vielen Feldern eine sichtbare methodisch-theoretische und interdisziplinäre Professionalisierung Einzug gehalten hat, vermeintliche Randgebiete ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt sind und der Zugang bisher marginalisierter Gruppen zur Wissenschaft in vielen Teilen der Welt einfacher geworden ist.

Dies ist die eine Seite der Medaille. Andererseits hat das Ende der Rede vom Ende der Geschichte vor dem Hintergrund aktueller globaler, nationaler und regionaler Entwicklungen zu einer Rückkehr zu geopolitischen Denkweisen geführt. Diese schlägt sich in einem überraschenden Comeback der Geographie als vermeintlich objektiver Leitwissenschaft nieder, das sich freilich in manchen Wissenschaftssegmenten bereits früher angedeutet hatte. Die Popularität Karl Haushofers unter den russländischen Eliten ist nur ein extremes Beispiel hierfür.

Während man bei der Betrachtung westlicher geschichtstheoretischer Debatten durchaus den Eindruck gewinnen kann, dass die Rolle der Zeit zum dominierenden Element der Diskussionen geworden ist1, hat es den Anschein, dass ein bedeutender Teil der zur Geschichte des östlichen Europas Forschenden sich weiterhin – oder jetzt erst recht – dem Diktat vermeintlich vorgefundener historischer Räume unterwirft. Die Verbindung politisch gewollter und somit auch vorrangig mit öffentlichen Mitteln finanzierter Area Studies mit der traditionellen Selbstverortung von Wissenschaftler:innen innerhalb von Paradigmata, die größtenteils aus dem 19. Jahrhundert stammen und allenfalls notdürftig mit schickem konstruktivistischem Vokabular verkleidet werden, hat seit der Jahrtausendwende zu einer Reihe von Publikationsprojekten mit umfassendem Anspruch geführt. Jenen Räumen, die wahlweise als Osteuropa, Ostmitteleuropa oder als östliches Europa bezeichnet werden, nähern sie sich auf ganz unterschiedliche Weise. Sie tragen damit zu einer Debatte bei, die die Forschung im Grunde seit den Diskussionen um Friedrich Naumanns Mitteleuropabegriff beschäftigt. In den letzten Jahrzehnten kristallisierte sie sich insbesondere am Zentraleuropa-Modell, das insbesondere in Österreich favorisiert wird, sowie in der eher deutschen Debatte um die Sinnhaftigkeit eines starren Ostmitteleuropamodells.2

Schwerpunktzentren solcher Veröffentlichungen sind in Europa die Central European University in Budapest (jetzt Wien), das Leipziger Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa und das Leipzig Research Centre Global Dynamics (ReCentGlobe) sowie das Imre Kertész Kolleg an der Universität Jena. An diesen Orten ist eine Reihe von Publikationen entstanden, die insgesamt große Beachtung gefunden haben.3 Hier soll jedoch nur von drei Jenaer „Handbüchern“ mit Syntheseanspruch die Rede sein, deren Entstehungszeitraum sich über zehn Jahre hingezogen hat. Sie widmen sich den Schwerpunkten „Challenges of Modernity“, „Statehood“ und „Intellectual Horizons“ und wurden mittlerweile um einen vierten Band „Violence“ ergänzt.

Nach der Definition des neuen Gatekeepers in Sachen Weltwissen, Chat GPT, handelt es sich bei einem Handbook um einen „reference guide or manual that provides information, instructions, and guidelines on a particular subject or topic. Handbooks can be used for a wide range of purposes, including educational, professional, or personal use. Typically, a handbook includes detailed information and instructions that are organized in a structured way to make it easy for the reader to find what they need. It may cover a wide range of topics or provide more in-depth information on a specific subject”.4 Um es vorwegzunehmen: Diesem Anspruch werden die zu besprechenden Bücher in Teilen durchaus gerecht, wenngleich die Themenwahl mitunter beliebig erscheint und die Zusammenstellung der Beiträge gewisse Ähnlichkeiten zu ambitionierten Sammelbänden aufweist.

Auch wenn es durchaus lohnenswert wäre, jeden der insgesamt 20 äußerst umfangreichen Beiträge gesondert zu besprechen, ist dies im hier gegebenen Rahmen natürlich unmöglich. Deshalb soll der Schwerpunkt im Folgenden zum einen auf den Umgang mit dem Konzept „Ostmitteleuropa“ gelegt werden; zum anderen sollen punktuell Stärken und Schwächen einiger Texte beleuchtet und im Kontext ihrer methodischen Vorannahmen und Determinanten diskutiert werden.

Grundsätzlich würde man erwarten, dass zu Beginn des ersten Bandes geklärt wird, was die Herausgeber genau unter jenem „Central and Eastern Europe“ verstehen, auf das sich der Titel bezieht. Dies gilt umso mehr, als die Initiatoren der Reihe, Joachim von Puttkamer und Włodzimierz Borodziej, in der Vergangenheit mehr als einmal klar gemacht haben, wie wichtig ihnen der Begriff Ostmitteleuropa ist.5 In einem, ebenfalls zusammen mit Stanislav Holubec herausgegebenen, Sammelband von 2014, der in gewissem Sinne als Vorläufer des Großprojekts verstanden werden kann, formulieren sie apodiktisch: „In the case of Eastern and Central Europe, a definition that takes account of both geography and history would seem to be the most plausible“6, worauf eine knappe Wiedergabe der nicht unproblematischen, überwiegend geographischen Determinanten des amerikanischen Historikers und selbsternannten karpato-rusinischen Nationbuilders Paul Robert Magocsi folgt.7 Nun, im Vorwort zu Band 1, werden die Grunddefinitionen von Magocsis Dreizonenmodell wiederholt (S. xxf.). Es folgt allerdings weder eine tiefergehende Analyse dieser Begrifflichkeit noch spielt diese Definition im Verlauf der Beiträge irgendeine erkennbare Rolle. Es ist durchaus klug, dass hier offenbar ein Lerneffekt eingesetzt hat, der die postmoderne Vielfalt der Interpretations- und Abgrenzungsmöglichkeiten sichtbar werden lässt. Allerdings wäre es in einem Handbuchprojekt noch klüger gewesen, das konstitutionelle Identitätsproblem von Area Studies, die problematischen Implikationen willkürlicher, aus dubiosen politischen Kontexten stammender geopolitischer Begrifflichkeiten und die lebhaften wissenschaftlichen Diskussionen darüber in einem grundlegenden Beitrag zu skizzieren. Wie ein solcher Beitrag aussehen kann, der zudem Geschichte und Gegenwart „Ostmitteleuropas“ mit seinen transnationalen und transregionalen Beziehungen im kontinentalen wie globalen Kontext verortet, hat vor Kurzem Katja Castryck-Naumann überzeugend vorgeführt.8

Dessen ungeachtet bleibt die Frage, ob die Schaffung und traditionelle Verwendung des Ostmitteleuropa-Begriffs nicht einen weiteren Versuch der Übertragung westlich-kolonialistischer Vorstellungen und Normen auf den somit konstruierten Osten darstellt. Ist die Anwendung dieser Terminologie durch „östliche“ Wissenschaftler:innen historisch betrachtet nicht ebenfalls einfach ein Versuch, eigene koloniale Vorstellungen, seien sie imperial oder sozial, zu pflegen, ohne sie offen auszusprechen? Sind damit die Area Studies der Jahre nach 1945 nicht einfach der Versuch, vermeintlich leicht verständliche geographische Muster für uninformierte Öffentlichkeiten zu schaffen? Die wissenschaftliche Unsinnigkeit einer Aufteilung in West- und Osteuropa benennen Hannes Grandits, Pieter Judson und Malte Rolf in ihrem Beitrag zu Bürokratisierung und Staatsbildung in Imperien und Nationalstaaten vor 1914 erfreulich deutlich: „A polarized West–East framework of this sort falls short as an interpretative model […]. It posits a ‘civilizational’ picture of an idealized (imagined) West that can never actually be attained. The image of being ‘behind in times’ is thus selfperpetuating. For, by the time they’ve caught up, the West will once again be ahead of them, continually upholding the fundamental motif of a failed modernization.” (Band 2, S. 44). Man könnte es auch pragmatischer in der kühlen Managersprache eines Eduard Mühle formulieren: „East-Central Europe [is; MK] a convenient construct or […] a heuristic means that helps to separate and determine a part of Europe exclusively for pragmatic and research-oriented purposes.”9

Man muss gleichwohl konstatieren, dass die Autor:innen der drei Bände in den seltensten Fällen einem plumpen geographischen Determinismus anheimfallen. Dennoch differiert der Umgang mit dem erkannten Problem deutlich. Zwischen „Eastern“ und „Central Europe“ wird manchmal unterschieden, manchmal nicht; Südosteuropa tritt mitunter als eigene Region in Erscheinung, mitunter nicht. Manche Staaten werden je nach Bedarf in- oder exkludiert. Letztlich jedoch erscheint genau das die richtige Herangehensweise – nämlich, sich je nach historischer Epoche, behandelter Problemkonstellation oder Abgrenzung nach außen ein eigenes Bezugssystem zu schaffen.

Transnationalisierung, Relokalisierung oder Verflechtung von Nationalgeschichten zu untersuchen, ist weder per se interessant noch moralisch geboten. Erhellend ist vielmehr der Blick auf temporäre Praktiken kontingenten Charakters. Auch wenn in den letzten Jahren der Ruf nach neuen, affirmativen Narrativen wieder lauter wird, kann dieser Wunsch der Zerrissenheit und Zersplitterung von historischen Prozessen nicht gerecht werden. Vielmehr dient er immer nur der Sinnstiftung innerhalb eines halbwegs geschlossenen generationellen, sozialen oder ökonomischen Systems. Die Sinnlosigkeit von Geschichte auszuhalten und die eigene Position wie Bedeutsamkeit in ihr soweit wie möglich zu hinterfragen, stellt eine enorme Herausforderung dar. Parallele Entwicklungen aufzuzeigen, auf Ähnlichkeiten zu verweisen und temporäre Netzwerke wie Interaktionen zu beschreiben, ist damit die einzige Möglichkeit, um eine additive Darstellung von historischen Einzelereignissen zu vermeiden. Aus diesen meist recht kurzzeitig wirksamen, oftmals nur individuell erklärbaren und dem Zufall ausgelieferten Praktiken längerfristige Strukturmodelle zu entwickeln, langlebige Mesoregionen oder gar „geographische Räume“ zu konstruieren, dient nur einer Vereinfachung komplexer Sachverhalte, die im Ringen um Wahrnehmung in der Öffentlichkeit oder materielle Ressourcen – vielleicht auch dem tief empfundenen Wunsch nach Sinnstiftung – verständlich, aber letztlich wenig seriös ist.

Wenn man bestimmte, für die historischen Prozesse des 20. Jahrhunderts zentrale Themen untersucht – was durchaus wünschenswert ist –, kann es also nur darum gehen, die Vielfalt von Entwicklungswegen und Praktiken aufzuzeigen. Die Voraussetzung dafür ist das konsequente Aufbrechen vermeintlich normativer Vorstellungen von Raum und Zeit zugunsten einer exemplarischen narrativen Darstellungsweise, die offen bekennt, dass es keine Gesetzmäßigkeiten und klar strukturierte historische Abläufe geben kann, die außerhalb der Position des sie konstruierenden Akteurs existieren. Jedenfalls nicht solche, die aus der beschränkten menschlichen Wahrnehmung heraus erkannt werden können.

In den drei Bänden kommt es vereinzelt vor, dass aus dem „Nebeneinander von Länderbeispielen in Sammelbänden“, das Joachim von Puttkamer 2010 kritisiert hatte10, ein Nebeneinander von Länderbeispielen innerhalb einzelner Beiträge wird. Dass die Texte somit eher lexikalischen Charakter gewinnen, kann unter Umständen von Vorteil sein, wenn die unterschiedlichen Forschungsstände dadurch sichtbar werden oder die Auflistung statistischer Informationen gewisse Vergleichsmöglichkeiten bietet. Dies wird besonders in Band 1 deutlich – vermutlich auch infolge der unmittelbaren Kooperation der Autor:innen. Am prägnantesten sind freilich die Beiträge, die anhand eines komplexen, abstrakten Oberthemas Verbindungs- und Trennlinien zwischen geographischen und politischen Räumen ziehen. Besonders gut gelungen ist dies Anikó Imre in ihrem Text zur europäischen Fernsehgeschichte nach 1945. Sie kann die Interdependenzen und Ähnlichkeiten über den Eisernen Vorhang hinweg detailliert und gut lesbar nachweisen (Band 3, S. 311–366).

Was die drei Themenschwerpunkte angeht, so erscheint der zweite Band über Staatlichkeit besonders geglückt. Dies liegt an seiner Kohärenz, weniger an der (eher unterkomplexen) methodischen Kurzeinleitung, die im Grunde nur auf den Slogan einer „Kulturgeschichte des Politischen“ rekurriert. Für eine Verknüpfung von Staat und Gesellschaft hätte es zahlreiche andere Ansätze gegeben, die näher an den in Band 1 bevorzugten Schwerpunkten gelegen hätten, man denke nur an John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit, wenn man sich schon mit einer Bezugnahme auf Carl Schmitt schwertut. Die Beiträge bewegen sich in einem Forschungsfeld, das noch nicht ausgereizt erscheint, und folgen einer klaren chronologischen Gliederung. Eher konventionelle, faktenbasierte Texte wie die von Jochen Böhler und Dietmar Müller wechseln sich mit stärker konzeptuellen, exemplarischen ab. Heraus sticht vor allem Sabina Ferhadbegovićs äußerst anregender Beitrag zur Performanz und Repräsentation von Staatlichkeit anhand von Parlamentsgebäuden und Weltausstellungen, der auf einem breiten kulturwissenschaftlichen Fundament aufbaut. Claudia Kraft und Ulf Brunnbauer nehmen die juristischen Determinanten des Staates im Sozialismus ernst und machen deutlich, dass die ursprüngliche kommunistische Idee vom Absterben des Staates allmählich völlig aus der Wahrnehmung verschwand. Joachim von Puttkamers Versuch, die Entwicklungen seit 1989 miteinzubeziehen, ist zwar ehrenwert, aber jenseits der selektiv skizzierten Faktographie zwangsläufig wenig ergiebig, da es aus der Perspektive von heute kaum möglich erscheint, die dominierenden Narrative zielgenau zu bestimmen.

Der „intellektuellen Horizonten“ gewidmete dritte Band war zweifellos der am schwierigsten zu schreibende, da für dieses Themenfeld bereits eine Vielzahl von Darstellungen vorliegt, nicht zuletzt aus der Feder der Beiträger:innen dieses Handbuchprojekts. So haben insbesondere Diana Mishkova, Maciej Górny und Balázs Trencsényi bereits in eigenständigen Publikationen Grundlegendes zu diesem Thema gesagt.11 Solche Wiedererkennungseffekte sind freilich unvermeidlich, wenn die Auswahl der Verfassenden nach dem Prinzip „man kennt sich, man schätzt sich“ erfolgt. An der Qualität der Beiträge ändert dies zwar nichts, besonders bei Trencsényi ist die profunde Kenntnis europäischer Ideengeschichte, die er hier nur exemplarisch vorführen kann, immer wieder beeindruckend. Gerade hier hätte man sich aber gewünscht, dass etwa auf der Basis neuerer kulturwissenschaftlicher Studien auch andere Linien sichtbar geworden wären, man denke etwa an W.E.B. Du Bois oder Michel Foucault in Warschau oder „sozialistische“ Expert:innen in nicht-europäischen Ländern.

John Connellys Beitrag zur Religion fällt etwas heraus, zeigt er doch, wie wenig innovativ man sich einem Gegenstand nähern kann. Bei einem Thema, das sich wie kaum ein zweites dazu eignet, aus einer alltags- oder mikrogeschichtlichen bzw. einer international vergleichenden Perspektive behandelt zu werden, beschränkt sich der Verfasser auf eine rein nationalstaatliche Gegenüberstellung von Fakten. Im Falle der katholischen Kirche scheint die römische Perspektive zwar kurz auf, wird danach aber gleich wieder ausgeblendet. Weiterführende Literatur zum Thema Säkularisierung kommt mit Ausnahme des nicht unproblematischen, weil pro domo argumentierenden José Casanova nicht vor. Die These, der nationale Gedanke habe mancherorts den religiösen ersetzt, ist zwar nicht unplausibel, hätte aber ein stärkeres empirisches (oder wahlweise theoretisches) Fundament erfordert.

Am nächsten an der Sozial- und Alltagsgeschichte der angenommenen Region bewegt sich zweifellos der erste Band über die „Herausforderungen der Moderne“, der in gewisser Weise eine Fortsetzung und Weiterführung der schon erwähnten Vorabpublikation von 2014 darstellt. Wenngleich die Problematik des Modernebegriffs, den Differenzierungen Shmuel Eisenstadts zum Trotz, heute vielleicht noch sichtbarer ist als vor zwei Jahrzehnten, so ist es hier doch allen Beitragenden gelungen, unabhängig von der Begrifflichkeit einen tiefen Blick in die gesellschaftlichen Strukturen der behandelten Länder zu ermöglichen. Die Materialdichte ist mitunter beeindruckend. Stellenweise kann man sich zwar fragen, ob die Vielzahl an Statistiken vor allem in den die Ökonomie betreffenden Texten einen tatsächlichen Mehrwert darstellt, aber zumindest kann der Band hier wie ein klassisches Nachschlagewerk tatsächlich Informationszwecken dienen. Hinzu kommt, dass man sich hier auf so hohem Niveau wie sonst höchstens in den umfassenderen Arbeiten etwa Iván T. Berends mit dem aktuellen Forschungsstand vertraut machen kann.12

Auch wenn Béla Tomka offenbar selbst nicht immer weiß, ob er eher die „considerable diversity of the region“ oder doch den „degree of unity“ erforschen möchte (S. 386), erfahren die Lesenden gleichwohl wichtige Informationen über das Konsum- und Freizeitverhalten im Sozialismus. Sehr verdienstvoll ist die häufig vernachlässigte Gegenüberstellung von Stadt und Land im Beitrag von Błażej Brzostek und Ivana Dobrivojević Tomić, der vor allem davon lebt, dass er sich auf wenig bekannte Primärliteratur stützt, wenngleich ihm am Ende ein Fazit fehlt. Zsombor Bódy und Stanislav Holubec stellen die Entwicklung von Landwirtschaft und Stratifizierung in den Vordergrund, wohingegen die ebenfalls angekündigten Felder Mobilität und Bildung etwas ins Hintertreffen geraten. Luminiţa Gatejel und Jerzy Kochanowski skizzieren ausführlich die Bedeutung von Verkehr, Infrastruktur und Kommunikation. Problematisch an ihrem Text ist höchstens, dass die Aussagen zur aktuellen Entwicklung bereits 2015 enden, obwohl der Band fünf Jahre später erschienen ist. Der Artikel von Kateřina Lišková und Stanislav Holubec leidet bei all seiner Wichtigkeit in Bezug auf die Darstellung von Sexualität(en) an seiner leicht verklärenden Beurteilung des Staatssozialismus, etwa was die Möglichkeiten der Frauen angeht.

Alles in allem ist in Jena ein umfassendes, wenngleich nicht alle denkbaren Themenblöcke umfassendes, Kompendium entstanden, dessen Stärke im Detail liegt. Eine allgemeine, transregional wie transnational verstandene, konzeptionell breite und vor allem methodisch innovative Gesamtübersicht zum 20. Jahrhundert steht allerdings weiterhin aus. Eine solche könnte der angekündigte zweite Band des Leipziger „Handbuchs einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas“ liefern, wenn es seinen Autor:innen gelingt, die generationell bedingte Pflege vertrauter lebensweltlicher Muster aus der Zeit des Kalten Kriegs ebenso zu überwinden wie die autopoietische Wahrung von Besitzstandsinteressen einer gegebenen Gruppe.

Es stellt zweifellos einen Fortschritt dar, dass in keinem der Jenaer Bände „der Westen“ über „den Osten“ schreibt und diesem seine kolonialen Muster aufzwingen möchte. Doch dabei kann es sich nur um einen ersten, selbstverständlichen Schritt handeln. Gewisse Abhängigkeiten von Forschenden aus den Ländern jenseits der Oder von dominierenden Narrativen des Westens existieren selbstverständlich weiter, etwa über fachinterne Belohnungssysteme. Dies ist vergleichbar mit der Situation von Wissenschaftler:innen aus ehemaligen Kolonien, deren Karrieren meist an den Elitehochschulen des „Westens“ begannen und zugleich von Emanzipation zeugen: Manchen von ihnen, man denke an Dipesh Chakrabarty, Gayatri Chakravorty Spivak oder Pankaj Mishra, entwickelten im Laufe ihres Wirkens weiterführende Konzepte, die die Möglichkeiten einer global aufgestellten Forschung eindrucksvoll sichtbar machten. Sich auf diese nächste Etappe zu begeben und sich von dem im „Westen“ nach wie vor gültigen „harten Kern“ (Imre Lakatos) der Erklärungsmodelle des historistischen 19. Jahrhunderts zu lösen, würde den nächsten Schritt einer wissenschaftlichen Dekolonisierung „Osteuropas“ darstellen. Eine solche Entwicklung ist allerdings, auch angesichts der sich verstärkenden Renationalisierung, derzeit nicht in Sicht.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa die jüngsten Ausgaben der Zeitschrift „History & Theory“, die sich u.a. ausführlich mit dem Konzept der „Historical Futures“ befassen, das Zoltán Boldizsár Simon und Marek Tamm entwickelt haben, aber auch den an der Universität Bielefeld betreuten Theorieblog „Geschichtstheorie am Werk“, https://gtw.hypotheses.org/.
2 Siehe dazu etwa Peter Stachel, Zum Begriff „Zentraleuropa“, in: newsletter MODERNE. Zeitschrift des Spezialforschungsbereichs Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900, 2,1 (1999), S. 12–14; Moritz Csáky, Zentraleuropa. Karriere eines kulturwissenschaftlichen Paradigmas, in: Gertraud Marinelli-König / Philipp Hofeneder (Hrsg.), "Neue Bienen fremder Literaturen". Der literarische Transfer zwischen den slawischen Kulturen und dem deutschsprachigen Raum im Zeitalter der Weltliteratur (1770–1850), Wiesbaden 2016, S. 15–42; Markus Krzoska / Kolja Lichy / Konstantin Rometsch, Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History 16, 1 (2018), S. 40–63, sowie die vier Antworten auf diesen Beitrag in Heft 16, 3 (2018).
3 Namentlich Frank Hadler / Matthias Middell (Hrsg.), Handbuch einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas, Bd. 1, Göttingen 2017, rezensiert für H-Soz-Kult von Maciej Górny, 20.06.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26836; Balázs Trencsényi u.a. (Hrsg.), Discourses of collective identity in Central and Southeast Europe (1770–1945). Texts and commentaries. 5 Bde., Budapest 2006–2014; Matthias Middell (Hrsg.), The Routledge Handbook of Transregional Studies, London 2019; Katja Naumann u.a. (Hrsg.), In Search of Other Worlds. Essays towards a cross-regional History of Area Studies, Leipzig 2018, rezensiert für H-Soz-Kult von Chris Saunders,10.12.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28549.
4https://chat.openai.com/chat (Anfrage vom 03.03.2023).
5 Siehe Anm. 6 und 10.
6 Włodzimierz Borodziej / Stanislav Holubec / Joachim von Puttkamer (Hrsg.), Mastery and Lost Illusions. Space and Time in the Modernization of Eastern and Central Europe, München 2014, S. 1–3.
7 Paul Robert Magocsi, Historical Atlas of East Central Europe, Seattle 1993. Vgl. auch Alexander J. Motyl, The paradoxes of Paul Robert Magocsi: the case for Rusyns and the logical necessity of Ukrainians, in: Nationalities papers 39, 1 (2011), S. 105–109.
8 Katja Castryck-Naumann, Introduction: Moving from Transnational to Transregional Connections? East-Central Europe in Global Contexts, in: dies. (Hrsg.), Transregional Connections in the History of East-Central Europe, Berlin 2021, S. 1–34, rezensiert für H-Soz-Kult von Zaur Gasimov, 16.02.2023, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-114750.
9 Eduard Mühle, East Central Europe in Historiographic Concepts of German Historical Studies, in: Jerzy Kłoczowski / Hubert Laszkiewicz (Hrsg.), East-Central Europe in European History. Themes and Debates, Lublin 2009, S. 55–72, hier S. 71f.
10 Joachim von Puttkamer, Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 153f.
11 Diana Mishkova, Beyond Balkanism. The Scholarly Politics of Region Making, London 2019; Balázs Trencsényi u.a., A History of Modern Political Thought in East Central Europe, 3 Bde., Oxford 2016–2018; Maciej Górny, „Die Wahrheit ist auf unserer Seite”. Nation, Marxismus und Geschichte im Ostblock, Köln 2011; ders., Vaterlandszeichner. Geografen und Grenzen im Zwischenkriegseuropa, Osnabrück 2019, rezensiert für H-Soz-Kult von Justyna Aniceta Turkowska, 13.04.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-49734.
12 Iván T. Berend, An economic history of twentieth-century Europe. Economic regimes from laissez-faire to globalization, Cambridge 2016.

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